Frau Bentlage, warum ist es so wichtig, den richtigen Beruf zu wählen?
Weil man den falschen Beruf nur für eine gewisse Zeit aushalten kann.
Die meisten suchen nach Abitur oder Studium nach einem Traumjob, einer Bilderbuchkarriere – Sind das nicht ein bisschen zu hohe Ansprüche an unsere berufliche Tätigkeit?
Ja und nein. Ich rede ganz gerne davon, der Beruf sollte mich zufrieden machen. Wenn er mich obendrein glücklich macht, ist das schön. Wichtig ist nur, dass der Beruf nicht komplett gegen meinen inneren Bauplan anläuft.
Dann passiert was?
Erstmal gar nichts. Man kann sich erstaunlich lange durchbeißen, wenn man im falschen Beruf steckt. Viele meiner Klienten wechseln erstmal die Frisur, die Wohnung, den Partner, bevor sie realisieren: es ist der Job, der gewechselt werden will. Dann sind sie meistens zwischen Mitte 40 und Mitte 50 – manchmal in Besitz von Villa, Yacht und Golfclubausweis – und können einfach nicht mehr.
Was macht denn den richtigen Beruf zum richtigen Beruf?
Wichtig ist: Ich kann es gut. Genauso wichtig aber ist: Ich mache es gerne. Dinge tun, die man zwar kann, aber nicht mag, ist genauso anstrengend, wie das nicht tun zu dürfen, was man eigentlich tun möchte. Diese beiden Leitplanken, was kann ich gut und was mach ich gerne, die setzen den Korridor dafür, in welche Richtung man sich beruflich orientieren sollte.
Klingt nicht so schwierig, warum gehen dann doch so viele bei der Jobsuche zunächst mal in die Irre?
Der Grund dafür liegt ganz stark im Umfeld. Zum einen im Angebotsumfeld, es gibt unfassbar viel an Ausbildungen, Studiengängen, Berufsfeldern. Eine hochkomplexe Vielfalt an beruflichen Möglichkeiten, die auch noch ständig in Bewegung ist. Die ganze Abschlusslandschaft hat sich verändert, die Nomenklatur hat sich verändert – die Übersicht ist da schwer zu behalten.
Auf der anderen Seite steht das persönliche Umfeld. Wenn die jungen Leute heute mit der Schule fertig sind, dann sind sie häufig noch nicht einmal volljährig. Das heißt, für die ist in den meisten Fällen wahnsinnig wichtig, was sagen denn meine Freunde dazu. Bekommt die Berufswahl Elektriker ein „Boah, wie cool!“ als Reaktion und die Ökotrophologin genug Herzen auf Instagram? Diese Außenorientierung führt häufig genug weg von dem, was eigentlich besser zu der einzelnen Person gepasst hätte. – Und dann sind da noch die Grundmotive.
Was sind denn Grundmotive?
Grundmotive sind das, was uns im Leben bewegt, was uns antreibt. Es sind tiefliegende Grundbedürfnisse zum Beispiel nach Beziehung, Leistung, Status, Sicherheit. Diese Grundmotive liefern die Energie, die nötig ist, um sich einer neuen Aufgabe zu stellen oder ein Ziel zu verfolgen. Auch über Durststrecken hinweg. Wenn unser Beruf unsere Grundmotive befriedigt, dann liefert er Energie, wenn nicht, dann wird er über kurz oder lang zum Energiefresser.
Anders ausgedrückt: Wenn du hart für etwas arbeitest, was du magst, dann nennt man das Leidenschaft. Wenn du hart für etwas arbeitest, was du nicht magst, dann nennt man das Stress. An der Sache selbst liegt es nicht. Es liegt allein daran, ob es zu deiner inneren Motivation und deiner Persönlichkeit passt oder nicht.
Das heißt zu Ende gedacht auch: Ich kann machen, was ich gut kann und gerne tue und trotzdem mit meiner Berufswahl unglücklich werden, weil die Grundmotivation nicht passt?
Genau. Mein Paradebeispiel: Ich lese den Wirtschaftsteil der Zeitung, bin super in Excel, liebe mathematische Probleme, Finanzthemen interessieren mich brennend – Eltern, Freunde, Online-Tests alle sind sich einig: geh ins Investmentbanking! Und das macht mir – im Studium zunächst mal – auch mächtig viel Spaß. Klar: Ich tue Dinge, die ich mag und die ich kann. Auf den ersten Blick. Denn was erwartet mich im Alltag auch? Knallharter Wettbewerb, spitze Ellenbogen. Wenn ich jetzt aber eher ein Sicherheits- und Beziehungstyp bin, der zum Beispiel als Student dafür gesorgt hat, dass alle mitkommen und jeder sich wohlfühlt, weil ich nämlich ein kooperatives Miteinander brauche, weil ich am besten arbeite, wenn ich mich nicht ständig beweisen muss, sondern meinen Platz sicher habe – dann werde ich im Investment-Banking auf Dauer nicht glücklich sein. Und erfolgreich auch nicht.
Grundmotiven ist gar nicht so einfach auf die Spur zu kommen. Und gleichzeitig sollte man sie bei der Berufswahl unbedingt beachten, denn sie ändern sich über lange Lebensphasen nicht.
Was hilft?
Die Delphi-Methode.
Was ist die Delphi-Methode?
Die Delphi-Methode ist eine Methode aus der Zukunftsforschung. Sie wurde in den 1960er Jahren in der amerikanischen Denkfabrik RAND entwickelt. Das war die Zeit von Star Trek und Science Fiction. Wissenschaft und Politik wollten wissen: Was wird Science, was bleibt Fiction. Man wollte also – ähnlich wie ein junger Mensch vor der Wahl von Studium oder Ausbildung – wissen, welche Zukunftsphantasie ist aussichtsreich, welche Luftschloss.
Wie funktioniert die Methode?
Ich zeige in meinem Buch „Schulabschluss geschafft! Und jetzt?“, wie es geht, und habe den Prozess dafür in zwei Blöcke gegliedert: Der erste Block widmet sich komplett dem Thema Selbsterkundung. Standortbestimmung. Das ist übrigens genauso, wie bei mir im Beratungsprozess. Wer bin ich, was kann ich, was brauche ich. Im Beratungsprozess erarbeite ich diese unterschiedlichen Perspektiven mittels Tests, meiner Expertise und Interviewtechnik.
Mit der Delphi-Methode holen sich die Leserinnen und Leser die unterschiedlichen Blickwinkel aus ihrem Umfeld. Sie benennen Experten. Mama, Onkel, Mathe-Lehrer, bester Freund, Vereinstrainerin werden gezielt befragt: was kann ich, was mag ich, wie ticke ich eigentlich wirklich. Ziel ist: Ich lerne mich selbst nochmal genauer kennen, durch die Brille der Personen, die ich befrage, aber auch nochmal durch meine eigene Brille. Das ist Schritt eins.
Schritt zwei ist dann zu schauen, wohin passt das denn. Berufserkundung. Welche Berufe passen, welche Personen sind da erfolgreich, welche Spielarten gibt es, welche Entwicklungsmöglichkeiten gibt es, wie komme ich in dieses Berufsfeld überhaupt rein. Für diese zweite Befragungsrunde suche ich mir neue Experten. Eltern von Freunden, Bekannte von Verwandten oder auch erstmal Fremde über eine Online-Recherche. Ich spreche Menschen an, die aus meiner Sicht spannende Berufe haben.
Wenn Sie damals – als frischgebackene Abiturientin – genau so vorgegangen wären, würden wir dann heute hier sitzen? Oder hätten sie möglicherweise einen ganz anderen beruflichen Weg eingeschlagen?
Möglicherweise. Ich hätte zumindest andere Wege viel gründlicher bedacht. Und dann hätten wir am Ende vielleicht doch auch hier gesessen, weil mich auch ein anderer beruflicher Weg am Ende in diese berufliche Rolle geführt hätte.
Das Buch:"Schulabschluss geschafft! Und jetzt? Ein Ratgeber zur Studien- und Berufswahl." Ulrike Bentlage, Hogrefe Verlag, 2020, 148 Seiten, 16,95 Euro.